Lernen von Dietrich Bonhoeffer, Teil 2: Kann ich eigentlich abstrakt ethisch entscheiden?

Heute morgen las ich in meinem Bonhoeffer-Andachtsbuch folgenden Vers:

"In dem Augenblick, in dem ein Mensch Verantwortung für andere Menschen auf sich nimmt, entsteht die echte ethische Situation, die sich von der Abstraktion, in der der Mensch sonst das Ethische zu bewältigen sucht, allerdings wesentlich unterscheidet." - Dietrich Bonhoeffer, Ethik (DBW 6), 2. Auflage 1998 Gütersloh, S. 220

Wenn ich über die letzten sechs Jahre meines Christen-Dasein nachdenke, fällt mir auf, daß sowohl ich als auch so gut wie alle anderen Christen um mich herum imm wieder versucht haben, bestimmte ethische Dinge abstrakt zu fällen, als beispielsweise:

Wie ist das eigentlich mit dem Sex vor der Ehe? Wie denken wir eigentlich über Abtreibung oder Embryonalforschung? Wann ist ein Christ eigentlich reif genug, Leitungsfunktionen in Hauskreisen, dem Worshipteam oder der Gemeinde zu übernehmen? etc.

Nun sagt Bonhoeffer jedoch deutlich, daß erst in der konkreten Situation verantwortlich ethisch gehandelt werden kann. Was bedeutet das genau?

Nachdem ich früher, genau wie viele andere auch, versucht hatte, mir anhand der Bibel zu o.g. Themen eine Meinung zu bilden oder bestimmte Prinzipien herzuleiten, mußte ich irgendwann einsehen, daß die Bibel zu vielen Themen einfach keine allumfassende, universale Antwort gibt. Stattdessen fand ich immer wieder, daß Gott in eine konkrete Situation seine situativ gebundene Wahrheit hineinsprach.

Vorweg: Selbstverständlich lassen sich Prinzipien in der Bibel entdecken, anhand derer wir dann ethisch entscheiden sollen. Und es ist auch gut so, diese Prinzipien zu entdecken, weil sie einzelne Züge von Gottes Wesen und Güte widerspiegeln. Sicherlich gäbe es an dieser Stelle viel sagen. Ich will hier aber nur auf einen Punkt hinaus: Gott ist ein Gott der Beziehung. Das sehen wir schon an der intensiven Verbindung zwischen dem Vater, Jesus und dem Heiligen Geist. Die Bibel selbst ist kein systematisches Gebilde, in dem Gott in seinem universalen Wesen dargestellt wird, sondern vielmehr eine Sammlung von Einzelberichten von Menschen, die diesen Gott in irgendeiner Weise durch Beziehung erlebt haben. Und weil Gott diese Beziehung zu Menschen will, hat er den Menschen nicht ein immer gültiges Buch mit ethischen Anweisungen gegeben, sondern wünscht sich, daß aus der Beziehung zu ihm in jeder konkreten ethischen Situation entschieden wird. Und nur so kann auch die konkrete Situation eines jeden einzelnen einbezogen werden, weil Beziehungen die Basis jedes menschlichen Lebens sind. Bonhoeffer spricht erst dort von der Freiheit eines Menschen, wo er sich in verantwortlicher Beziehung zu seinem Nächsten befindet (Dietrich Bonhoeffer, Schöpfung und Fall, 3. Auflage München 1955, S.41). Deshalb ist es absolut essentiell, daß wir Gott a) mit in unsere Beziehungen und b) mit in unsere (ethischen) Entscheidungen hineinnehmen.

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