Theologie, die Hilfswissenschaften und meine Selbsterkenntnis

Seit einigen Tagen bin ich damit beschäftigt, die “Einführung in die Philosophie“ von Arno Anzenbacher zu lesen, weil ich mir dachte, daß es ganz hilfreich sein könnte, einen Überblick bzw. ein großes Bild von dem zu gewinnen, womit ich mich seit Jahren immer mal wieder in Einzelteilen beschäftige (zunächst während des Theologiestudiums, jetzt innerhalb der Religionsphilosophie). Bereits einige Gedanken des ersten Kapitels der Einführung, in dem es Anzenbacher zunächst “nur“ darum geht, den Begriff “Philosophie“ zu klären und in Beziehung zu anderen Wissenschaften zu setzen, bewirkte bei mir eine grundlegende und weitereichende Erkenntnis, die ich im folgenden kurz skizzieren möchte.


Anzenbacher nimmt im ersten Schritt eine Unterscheidung zwischen Universalwissenschaft und Einzelwissenschaften vor (22ff.). Dabei komme der Philosophie (bzw. ebenso der Theologie) die Funktion der Universalwissenschaft zu, während Einzelwissenschaften all diejenigen Real- und Formalwissenschaften darstellten, die methodisch abstrakt arbeiten und dadurch immer nur einen Teilbereich der Weltwirklichkeit fassen würden (26). Als zweiten Schritt formuliert Anzenbacher:

“Ein sehr alter methodologischer Grundsatz besagt, dass sich keine Wissenschaft selbst Objekt und Methode gibt. Die Frage etwa, wie der Historiker seinen Gegenstand festlegt und seine Methode bestimmt, ist selbst keine historische Frage. Der Standpunkt, von dem aus Objekt und Methode einer bestimmten Wissenschaft festgelegt werden, liegt immer außerhalb dieser Wissenschaft. Er liegt im Bereich eines vor-wissenschaftlichen Vorwissens.“ (24)


Infolge der Feststellung, daß die Realwissenschaften durch ihre Erforschung von Teilbereichen als Forschungsthema gerade nicht das Ganze und damit auch nicht die Tragweite ihrer Aussagen kennen würden, schlußfolgert Anzenbacher mit einer steilen, aber logisch nachvollziehbaren These:

“Es scheint, dass nur die Philosophie in der Lage ist, vom Ganzen her den Einzelwissenschaften ihren Stellenwert im Ganzen zu zeigen. Der interdisziplinäre Dialog scheint nur als Dialog der Realwissenschaften mit der Philosophie zielführend zu sein.“ (28)


Unter Hinzunahme zweier Erläuterungen kann ich Anzenbachers These zustimmen: 1. Nur die Theologie (als wortwörtliches “Reden Gottes“) kann in den wirklich existentiellen Fragen eine Antwort geben (die Philosophie hilft allerdings wunderbar beim Finden und Formulieren wichtiger Fragen!); 2. “Philosophie“ steht hier synonym für jegliches Reflektieren empirischer Ergebnisse oder Methoden zum Gewinn solch empirischer (und damit auch historischer) Ergebnisse, was in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen oft stillschweigend abgedeckt wird.


Besonders diese letzten beiden Punkte gaben mir Sprengstoff für eine Erkenntnis. Und zwar habe ich mir immer wieder den Kopf zerbrochen darüber, daß ich mich, z.B. für eine Promotion, entscheiden muß zwischen der eher historisch orientierten Bibelauslegung und der eher philosophisch orientierten Systematischen Theologie. Unter Berücksichtigung von Anzenbachers Unterscheidung würde ich aber sagen, daß man beides eigentlich nicht voneinander trennen kann bzw. darf.


Denn ich muß durch sog. “vor-wissenschaftliche Reflexion“ überlegen, welche Forschungsmethoden überhaupt geeignet sind, um die Bibel theologisch sinnvoll auszulegen. Es gibt zig Methoden, aber die Entscheidung darüber, welche aus meiner Sicht die Geeignete ist, kann ich nur philosophisch bzw. theologisch fällen. Im deutschsprachigen Raum wird zumeist stillschweigend eine Form historisch-kritischer Exegese angewandt; warum dies jedoch so geschieht, bleibt i.d.R. unberücksichtigt (zumindest kann ich mich an diese Fragestellung in meinem Proseminar nicht erinnern). 

Interessanterweise sind es meistens die philosophisch geschulten Theologen gewesen, die frischen Wind in die biblische Exegese gebracht haben (Rudolf Bultmann, Klaus Berger, u.a.). 

Gleichzeitig habe ich das Gefühl, daß Vertretern historisch orientierter (Hilfs-)Wissenschaften (z.B. biblische Exegese) manchmal der Blick für das Ganze fehlt; man verfängt sich unter Umständen gern in historischen Spitzfindigkeiten u.ä. Auch hier sind es vornehmlich die philosophisch geschulten Exegeten gewesen, die historische Erkenntnisse so formuliert haben, daß sie als Antworten auf aktuelle philosophische bzw. systematisch-theologische Fragestellungen fungieren können.


Was ich aus dieser kleinen Auseinandersetzung mit philosophischer Einführungslektüre gelernt habe, ist - ganz banal gesagt -, daß ich zuallererst Theologe sein möchte. Natürlich ist die Auseinandersetzung mit philosophischem Denken interessant und spannend, macht in jedem Fall sensibel für die richtigen Fragen; ebenso kann ich mich sehr bereichernd mit antiker jüdischer und griechisch-hellenistischer Literatur beschäftigen, Quellen vergleichen, historische Zusammenhänge rekonstruieren, etc. Und es ist absolut berechtigt und hilfreich, daß sich Theologen in diesen Disziplinen wissenschaftlich engagieren und forschen.

Ich für mich weiß jedoch nun mehr denn je, daß ich noch den nächsten Schritt gehen möchte, indem ich die in der Philosophie entwickelten gesellschaftsrelevanten Fragen in fruchtbare Spannung zu historischen Erkenntnissen und theologischen Überlegungen setze, angefangen von einer überzeugenden Methodik und Hermeneutik bis hin zu praxisrelevanten Modellen, entwickelt anhand der Ergebnisse meines favorisierten Forschungsbereiches (Starkmachen der jüdisch-hebräischen Seite Jesu und des Neuen Testaments). Danke an große Theologen der Gegenwart wie N.T. Wright oder Walter Brueggemann, die mir ein sehr gutes Vorbild sind.

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