Zum Nachdenken: Leo Baeck über das Verhältnis von Martyrium und Geschichtlichkeit

“Ein Glaubenszeuge ist immer nur der geworden, der von der religiösen Idee so ganz erfüllt war und so durchaus in ihr lebte, daß er gegen den geschichtlichen Erfolg und gegen die sogenannten geschichtlichen Ergebnisse gleichgültig blieb. Nur wer diesen zu widersprechen und sie gering zu schätzen imstande ist, hat die Sicherheit des Überzeugungsmutes, die auch in den Tod führt. Durch historische Forschung wird man nicht zum Märtyrer. Was zum Märtyrer macht, ist in gewisser Hinsicht der ungeschichtliche Sinn. Jedes Genie ist ungeschichtlich, und jede Wahrheit ist es, da sie die begangene Straße verlassen, die gewohnte Bahn der Entwicklung verwerfen heißen. Es gibt nichs ‘Ungeschichtlicheres‘, als für eine Wahrheit zu sterben; denn man opfert sich nur für eine Wahrheit, die anders sein will als die bloße Geschichte.“

- Leo Baeck, Das Wesen des Judentums, Leo Baeck Werke Band 1, Gütersloh 2006, S.92.

Ich fand gerade o.g. Zitat in Leo Baecks wichtigem religionsphilosophischen Werk. Keinesfalls möchte ich damit zu unreflektierten, religiös motivierten Gewalttaten aufrufen. Und Baeck wollte das sicherlich auch nicht - ganz im Gegenteil. Was mir statt dessen beim Lesen dieser Stelle in den Sinn kam, lautet vielmehr: Solange ich mich allein der historischen Wissenschaft widme, kann ich mich auf meiner Objektivität ausruhen, Positionen kritisieren, ohne dass es mich wirklich etwas kostet. Wenn ich aber zu meinen Überzeugungen stehen will, die hoffentlich wohl durchdacht und in guter Absicht sind, muss ich etwas riskieren, auch gegen den Mainstream und gegen jede letzte wissenschaftliche Absicherung (die sowieso nie kommt, weil auch fast jeder wissenschaftliche Standpunkt irgendwann überhöht ist und Wissenschaft gern einmal mehr über den Wissenschaftler selbst sagt als über Wissenschaftlichkeit an sich). Nur so konnten Leute wie Bonhoeffer, Heschel, Luther King, Gandhi und eben genannter Baeck durchhalten und für ihre Überzeugungen bis zum Ende gehen, auch wenn das den Tod bedeutete. 

In den letzten Tagen stoße ich immer wieder (vornehmlich über Facebook) auf ein Interview mit dem Heidelberger Neutestamentler Klaus Berger, der lang und breit Kritik an der historischen Kritik innerhalb der theologischen Wissenschaft äußert. Sein Hauptpunkt scheint der zu sein, dass dadurch Wunder u.ä. rationalisiert und damit eliminiert würden. So sehr ich seine Ansicht in vielerlei Hinsicht schätze, fehlt mir aber auch ein Einwand gegen die liberale Theologie und ihren Historismus, den spätestens Karl Barth in seinem Römerbriefkommentar und seiner sich daran anknüpfenden Theologie (und der anderer Mitstreiter) geäußert hat. Und zwar hat Barth die Perspektive Gottes und Seiner Offenbarung wieder stark gemacht, Seine Sicht auf die Dinge und v.a. auf mich. 

Ich will damit folgendes sagen: Ich befürworte eine historische Sicht auf die Bibel, die für bestimmte Fragestellungen, Fernhalten von theologischer Fantasterei u.v.m. wichtig ist. Da die historisch-kritische Bibelauslegung ihre Schwächen hat, ist eine Modifikation bzw. ein neuer Weg in dieser Hinsicht wichtig; die Wissenschaft muss schließlich weitergehen. Aber genauso notwendig ist mir eine Auseinandersetzung mit der Bibel, die mich in die Ver-antwortung - ganz im Sinne des ursprünglichen Antwort Geben - zieht, ich also durch die Bibel und den darin redenden Gott angesprochen und unter Umständen aufgerüttelt werde. Das macht doch gerade den entscheidenden Unterschied der Theologie zu sonstigen historischen und kulturwissenschaften Disziplinen aus, dass Gott eine entscheidende Rolle spielt. Warum Ihn dann nicht auch ernst nehmen, wie auch immer das konkret aussehen mag. Spätestens aber, wenn ich im kirchlichen Dienst stehe und die Verantwortung vor und für eine Gemeinde habe (sofern ich sie denn annehme), komme ich allein mit historischen Werkzeugen nicht sonderlich weit.

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