Neue Bonhoeffer-Biographie von Charles Marsh: Warum noch eine?

Wer war eigentlich Dietrich Bonhoeffer (1906-1945) und warum geht von ihm nach wie vor solch eine Faszination aus, und das jenseits konfessioneller Grenzen und Prägungen? Wenn es nicht gerade der Griff zu Wikipedia ist, dann liegt es nahe, sich eine der durchaus zahlreichen Biogra- phien zu schnappen, um mehr über ihn zu erfahren. Seit dem letzten Jahr, bzw. seit diesem Frühling auch auf deutsch, ist allerdings der Markt wieder um eine  Biographie reicher geworden, sodass die Auswahl auf den ersten Blick immer schwieriger und unübersichtlicher erscheint. Bei Hännsler ist im letz- ten Jahr noch die deutsche Übersetzung von Eric Metaxas popular- wissenschaftlicher Bonhoeffer-Biographie erschienen, sodass für manch Evangelikalen die Wahl sehr einfach sein mag (zu einfach meiner Ansicht nach; s.u.). Warum also diese neue Biographie von Charles Marsh noch lesen, nachdem es mit (u.a.) Bethge, Wind, Ackermann, Schlingensiepen, Metaxas und zuletzt Tietz doch bereits etliche Vorläufer gegeben hat? Diese Frage habe ich mir lange gestellt.

Zunächst sei vorweggeschickt, dass ich die englische Ausgabe von Charles Marsh gelesen habe und somit nichts zu der deutschen Übersetzung und dem dortigen Satz etc. sagen kann. Ebenso wenig soll ein detaillierter Abriss des Lebens Bonhoeffers gegeben werden, der viel besser in einer der gerade erwähnten Biographien nachge- lesen werden kann. Vielmehr möchte ich nur kurz auf die Alleinstel- lungsmerkmale von Marshs Werk hinweisen und, warum es sich lohnt, gerade diese Biographie zu lesen. Denn - soviel sei vorweg- geschickt - es lohnt sich :-)!

Aber was macht eine gute Biographie eigentlich aus? Hier würde ich mindestens drei (bzw. vier) Komponenten nennen: 1. Einbeziehung von und wissenschaftlich-ausgewogener Umgang mit sämtlichen zugänglichen Quellen (sowohl Veröffentlichungen als auch Briefe, Tagebücher, Zettelnotizen usw.), 2. Verortung der biographierten Person im zeitgenössischen Kontext, 3. Gute Lesbarkeit (und 4. Aktualität, was jedoch direkt mit 1. und 2. zusammenhängt).

Wenn man sich unter diesen Kriterien einmal die bisherigen Biographien anschaut, kann ich zu denen, die ich bisher gelesen habe, folgendes sagen: Als wirklich adäquat wissenschaftliche und ausführliche Biographien mit ebendiesem Anspruch wurden bislang eigentlich nur Bethge und Schlingensiepen anerkannt. Wind hatte trotz ihres akademischen Anspruchs schon allein aufgrund ihres Umfangs und literarischen Stils nicht den Anspruch, eine ausführliche und wissenschaftliche State-of-the-Art-Biographie vorzulegen; d.h. wenn man eine lockere Lektüre zu Bonhoeffer mit kompaktem Umfang wünscht, ist diese Biographie sicher nicht schlecht. Ebenso geht es der brandaktuellen Einführung zu Bonhoeffer von Tietz, die trotz ihrer wissenschaftlichen Genauigkeit sicher nicht den Anspruch als vollwertige Biographie haben will (Ackermann habe ich bislang nicht gelesen, kann dazu also wenig sagen).

Es bleiben somit die vier “Großen“, nämlich Bethge, Schlingensiepen, Metaxas und zuletzt Marsh, wenn man sich fundiert und detailliert mit Bonhoeffer auseinandersetzen will. Bethges Biographie ist trotz zahl- reicher Neuauflagen im Prinzip auf dem Stand der 1960er Jahre, was die Quellenlage und Deutung betrifft. Dennoch ist sie in dem, was sie tut, zuverlässig und trotz ihrer Fülle von mehr als 1000 Seiten gut zu lesen. Sie hat sicherlich den großen Vorteil, dass der Verfasser der beste Freund Bonhoeffers war und somit ein unschätzbar wertvolles Bild von Bonhoeffer liefert.

Schlingensiepen ist mit etwas mehr als 400 Seiten deutlich übersicht- licher, bietet aber trotz bzw. gerade aufgrund seines Anspruches der Aktualisierung von Bethges opus magnum (und durch Bethge selbst beauftragt) kein substantiell neues Bild, obwohl die Quellenlage nach zwischenzeitlich gut 30 Jahren Bonhoeffer-Forschung markant reich- haltiger ist. Wem Bethges 1000 Seiten zu umfangreich sind, der ist mit Schlingensiepen wunderbar bedient, denn beide analysieren aus meiner Sicht (und Erinnerung) hervorragend den deutschen Kontext, dem sie ja selbst entspringen, und zudem Bonhoeffers Werke.

Anders verhält sich dies mit Metaxas und Marsh, denn beide sind dem Namen nach unschwer als Amerikaner zu erkennen. Und genau dieser Unterschied ist es meinem Eindruck nach auch, der sich in den Biographien beider widerspiegelt und worin die Stärke beider liegt. Denn sowohl Metaxas als auch Marsh bietet zahlreiche Hintergrund- informationen (jedoch unterschiedlicher Qualität) gerade für dieje- nigen, die nicht so sehr mit der deutschen Geschichte, Geographie und Politik vertraut sind. Metaxas besticht v.a. durch seinen litera- rischen Stil und macht dabei dem Untertitel seines Werkes alle Ehre: “Pastor, Märtyrer, Prophet, Spion“. Es ist also die Person Bonhoeffer im Fokus, womit auch gleichsam die wesentliche Schwäche dieses Buches schnell deutlich wird: Und zwar werden den zahlreichen Werken Bonhoeffers, angefangen mit seinen universitären Schriften über Vorlesungsskripte und dann natürlich “Nachfolge, “Gemeinsa- mes Leben“, der Ethik und den Gefängnisbriefen, prozentual gesehen kaum Beachtung geschenkt. Was bei den deutschen Biographien die große Stärke ist, wird hier zugunsten einer Darstellung dePerson geopfert, was sich meiner Ansicht nach aber gerade nicht trennen lässt. Auch wenn ich Metaxas Biographie nicht ganz so schlecht in Erinnerung habe, wie Prof. Clifford Green sie hier rezensiert hat, kann ich die zentralen Argumente Greens allesamt nachvollziehen: Metaxas versucht mit allen möglichen Mitteln, Bonhoeffer als schil- lernde Figur des Evangelikalismus darzustellen und von möglichst jeglichem Liberalismus fernzuhalten, was der historischen Quellen- lage de facto nicht entspricht und gerade auch Bonhoeffers Stärke war. Sein Bonhoeffer-Bild ist somit recht einseitig, zumal seine wis- senschaftliche Arbeit sehr dürftig bleibt, auch wenn ihm zu verdanken ist, dass Bonhoeffer endlich wieder einer sehr breiten Leserschaft zugänglich und attraktiv gemacht worden ist.

Kommen wir damit zu Charles Marsh, Professor an der University of Virginia. Kurz gesagt, Marsh legt eine aus meiner Sicht ausgewogene Darstellung Bonhoeffers vor, die:

  1. Sowohl Leben als auch Werk gleichermaßen berücksichtigt, 
  2. Up-to-Date die Quellenlage integriert und wissenschaftlich aufarbeitet,
  3. gute und zutreffende Hintergrundinfos zum zeitgeschichtlichen Geschehen bietet und
  4. sehr gut lesbar ist.

Überdies betont Marshs Werk im Vergleich zu Bethge wesentlich stärker noch die emotional-kreative Seite Bonhoeffers; psycholo- gisierend gesprochen, wird neben der linken Gehirnhälfte sozusagen auch besonders die rechte Gehirnhälfte berücksichtigt (Zentrum von Empathie, Kreativität und sonstigen Emotionen), wodurch ein bedeut- samer Gesamteindruck Bonhoeffers als theologisch-pastorale Führungsperson deutlich wird, von der man im 21. Jahrhundert und besonders unter missionaler Fragestellung noch Zahlreiches lernen kann. Natürlich darf man in dieser Facette auch Marsh nicht unkritisch lesen; fraglich ist etwa seine Tendenz, Bonhoeffers Freundschaft zu Bethge als geradezu homo-erotisch zu färben, wobei selbst in diesem Fall Marshs Perspektive interessant und bereichernd ist und seine Punkte sicher nicht völlig von der Hand zu weisen sind (wobei da natürlich immer noch die Verlobung mit Maria v. Wedemeyer und der früheren “Beziehung“ zu Elisabeth Zinn zu erklären wäre).

Als weitere Stärke Marshs ist sein Kapitel über Bonhoeffers ersten Amerika-Aufenthalt zu nennen, dessen Einfluss auf Bonhoeffers Denken von der deutschen Forschung bislang unterschätzt wurde und von Metaxas nur unzureichend gedeutet wird. Die Frage hierbei ist nicht, ob Bonhoeffer durch diese Zeit geprägt wurde - darüber sind sich alle einig -, sondern was genau und in welche Richtung ihn geprägt hat. Dass es eben weder wesentlich nur Jean Lasserres Pazifismus und Fokus auf die Bergpredigt war (dieser Eindruck entsteht bei Bethge, Schlingensiepen und der sonstigen deutschen Forschung) noch ausschließlich Abyssinian Baptist Church, die ihn erst zum Christen konvertiert hat (so Metaxas), wird bei Marsh ausgewogen thematisiert.

Alles in allem bietet Marsh damit eine bereichernde Perspektive auf das Leben und Werk Bonhoeffers, die gerade bei der kombinierten Lektüre mit Bethge (alternativ Schlingensiepen) voll zur Geltung kommt, aber auch allein für sich stehen kann. Besonders diejenigen, die schon ein wenig über Bonhoeffer gelesen haben, werden hier manchen Überraschungsmoment erleben. Und auch derjenige, der Bonhoeffer als Leiter und Führungspersönlichkeit entdecken will, kommt bei Marsh voll auf seine Kosten.

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