Lebst Du Dein Leben vom Ende her?

In den letzten Tagen las ich John Streleckys Buch “The Big Five for Life“, in dem es um die Führungsperson Thomas Derale geht. Thomas schaut mit 55 Jahren auf sein Leben zurück, das in wenigen Wochen aufgrund eines Gehirntumors enden wird, und nun reflektiert und kommuniziert er seine Geheimnisse über Leadership und das Leben in diversen Situationen und Dialogen. Als stilistisch leicht zu lesen- der Narrativ kann ich das Buch jedem empfehlen, der mehr zum Thema wissen will, weil es ein sehr ganzheitliches Konzept von Leadership liefert, die Möglichkeit einer besseren Arbeitswelt erträumt (die es hauptsächlich thematisiert) und eben durch die Form sehr zugänglich ist. 

Welcher Gedanke hat mich nun besonders herausgefordert? Wie bereits erwähnt, lässt sich dem Buch viel Weisheit entnehmen, die am Schluss auch nochmals kompakt zusammengefasst ist, um sie sich immer wieder mal ins Gedächtnis zu rufen. Letztlich hat mich aber von allem eine Frage gepackt, nämlich:

Lebe ich mein Leben von seinem Ende her?

Dahinter steckt die Annahme, dass jeder ein persönliches Lebensziel hat, warum er/sie lebt, sozusagen die Eigenmotivation bzw. die Berufung. Die gilt es, in jedem Fall herauszufinden, und hängt essentiell mit meinem Weltbild zusammen, mit meinen Werten etc. Das heißt, ich tue gut daran, mir darüber im Klaren zu werden, was das für mich bedeutet, warum und wofür ich eigentlich lebe - oder werde ich gelebt?

Ich als Christ kann diese erste Frage nach dem Warum für mich relativ einfach beantworten. Denn auch wenn es theologisch natürlich etliche Differenzen gibt, wird es irgendwas mit Gott, mit Seinem Willen und mit meiner Beziehung zu Ihm zu tun haben (ausführlicher habe ich diese Frage hier thematisiert). Um es platt auszudrücken: Ich muss oder sollte mir aus Sicht meines christlichen Weltbildes zunächst einmal keine allzu großen Sorgen machen, weil der große Narrativ der Bibel damit endet, dass alles gut wird, weil Gott gut ist, es gut meint und gut vollenden wird. 

Aber das beantwortet noch gar nicht zwingend die Frage, was ich konkret mit meinem Leben anfangen will.  

Dafür verknüpft Strelecky das persönliche Lebensziel mit fünf kon- kreten Dingen - mit den sog. “big five for life“ -, die ich erlebt, erreicht oder gesehen haben will, bevor ich sterbe. Für den einen mag eins dieser fünf Dinge eine Weltreise sein, für den Nächsten ist eins davon möglichst gute Beziehungen, und für einen Dritten bedeutet es, eine bestimmte Stellung oder Position erreicht zu haben. 

Aus meiner Sicht sind die “big five for life“ also v.a. darum spannend, weil die wenigsten von uns Menschen praktisch mit der Erwartung leben, irgendwann einmal zu sterben. Theoretisch wissen wir darum, und ab einem bestimmten Alter kommt vielleicht auch häufiger mal der Gedanke darüber. Aber haben wir bis dato auch tatsächlich unser Leben so gelebt, wie wir wollten?  Oder schauen wir zurück und ärgern uns, dass wir nie dieses oder jenes gewagt haben, zu viel Zeit mit Unnützem verbracht haben usw.?

Strelecky leitet von den “big five for life“ - vielleicht etwas amerika- nisch - das Konzept von Erfolg ab, sprich ich habe mein Leben dann erfolgreich gelebt, wenn ich meine “big five“ sozusagen abgehakt habe. 

Sicher kann man diesen Gedankengang als zu pragmatisch und machbar beiseite schieben; und das Konzept hat definitiv seine Schwächen, allein deshalb, weil das Leben weniger berechenbar ist als ein sonst übliches Projekt, das es zu managen gilt. Dennoch möchte ich persönlich Streleckys Gedanken weiter prozessieren und das Gute rausziehen, und zwar zumindest in zweierlei Hinsicht

1. Selbstverwirklichung vs. Jesus-Nachfolge?

 Bei uns Christen (v.a. im Westen) habe ich oft das Gefühl, dass wir unser Christsein als Lebensversicherung verstehen, die uns ereilt, wenn es zuende geht. Bis dahin leben wir in erster Linie mit Blick auf uns selbst, unsere Familie, unseren guten Job und dergleichen und betätigen uns nebenher vielleicht noch in der Gemeinde, lesen ab und an mal in der Bibel usw. Wo ist aber die echte Jesusnachfolge mit dem Anspruch geblieben, zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit zu streben (vgl. Mt 6,33)? Ich nehme mich da selbst gar nicht raus. Aber wir reden mittlerweile soviel über Berufung, über unsere Stärken und Persönlichkeit, dass wir dabei gern mal unsere allererste Berufung vergessen, nämlich Jesus nachzufolgen. Ich bin mir der schwierigen Spannung bewusst, hier nicht wiederum in altbekannte Dualismen zu verfallen. Denn die Welt ist natürlich auch Gottes Schöpfung, ich will keinesfalls in irgendeinen Asketismus verfallen o.ä. Aber mir jedenfalls fällt es aktuell eher schwerer, nicht auf der anderen Seite vom Pferd zu fallen und als Christ überhaupt keinen wesentlichen Unterschied mehr zu machen. Und missionale/ kontextuelle/ gesellschaftstransformatorische Theologie liefert mir zwar eine gute und durchaus sinnvolle Rechtfertigung, bestimmte Dinge nicht mehr zu tun, die kulturell einfach suboptimal sind, mich dann aber auch mit einer gewissen Handlungsunfähigkeit zurücklässt. Und da bezeugt mir das Neue Testament einfach ein anderes Bild. Um sich in dieser Unsicherheit immer wieder neu zu fokussieren, kann ein solches Konzept als ein Kompass helfen, um sich immer wieder aufs Wesentliche zu konzentrieren (vorausgesetzt, ich habe das Wesentliche vorher für mich klar definiert).

2. Das Leben als zeitlich abgesteckte Herausforderung und Chance

Egal ob Christ oder Nicht-Christ, die meisten von uns leben nicht vom Ende her mit dem Bewusstsein, dass das irdische Leben irgendwann aufhört. Denn für uns wirkt das in erster Linie bedrohlich; selbst ich, der ich mich “Christ“ schimpfe und eine Hoffnung auf die Ewigkeit besitze, empfinde nicht anders. Und das dürfte seinen Grund darin haben, dass wir dieses Ende eben als negativ verstehen. Aber ist das eigentlich so? Warum muss ich (hier)  ewig leben? Kann es nicht auch sehr attraktiv sein zu wissen, dass ich für eine bestimmte Zeit hier bin, um etwas Sinnvolles aus diesem Leben zu machen? Schon im 2. Brief an Timotheus heißt es von Paulus, er habe den guten Kampf gekämpft und den Lauf vollendet (2 Tim 4,7); und schon Jesus selbst war sich seines klaren und zeitlich angegrenzten Auftrages bewusst. Um diesen Rahmen etwas besser abzustecken, können mir die “big five for life“ helfen, die mir hier gegebene Zeit sinnvoll und v.a. bewusst zu nutzen. Wie gesagt, das Konzept hat seine Grenzen, und letztlich weiß ich nie, wie lange ich noch zu leben habe. Aber ist es nicht eine sehr schöne und reizvolle Vorstellung, an einem Punkt im Leben zurückzublicken und sagen zu können: “Ich habe wirklich das Beste aus meinem Leben gemacht und könnte theoretisch jetzt sterben“? Das muss ja gar nicht der letzte Atemzug sein - wenn nicht, umso besser. Aber zumindest mir, als Aufgaben-orientierte Person, hilft der Gedanke ungemein, mein eigenes Leben auch als Aufgabe zu betrachten, die es anhand meiner abgesteckten Lebensvision möglichst gut zu meistern gilt. Vielleicht stresst das andere Persönlichkeitstypen ungemein; mich jedenfalls ermutigt das eher und gibt mir v.a. eine Perspektive, den Tod und damit das Ende meines irdischen Lebens als viel weniger bedrohlich anzusehen. 

Die Gedanken sind natürlich alle nicht wirklich neu. Die Frage ist nur: Setze ich diese Gedanken tatsächlich um? Stelle ich die entsprechenden Weichen und habe den Mut, der manchmal nötig ist, ganz neue Wege einzuschlagen? Gehe ich dem Job nach, für den ich geschaffen bin, weil ich mich beharrlich damit auseinandergesetzt habe? Oder lebe ich eigentlich nur die paar Stunden nach meiner Arbeit und fange erst dann an, wirklich zu leben? Und habe ich mich auch sonst auf die (für mich) wirklich wichtigen Dinge in meinem Leben konzentriert oder muss ich bei der Informationen über meinen baldigen Tod feststellen, dass ich jetzt nur noch wirklich wichtige Dinge tun will? 

Und auch ganz selbstkritisch muss ich dann letztlich fragen, ob mir solch ein Buch wie dieses nicht wie der übliche Zeitgeist suggeriert, dass ich noch mehr schaffen muss, obwohl ich eigentlich mehr Zeit mit meiner Familie, mit Freunden usw. verbringen sollte. Ja, diese Gefahr besteht ebenfalls - es sei denn, ich sorge dafür, dass eine der big five auch intensive Beziehungen sind; das hängt ja gerade an mir selbst und meiner Planung :-).

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