Lernen von D. Bonhoeffer, Teil 5: Was sind eigentlich LEBENDIGE Christen?

"Gott will nicht tote Christen, sondern Christen, die ihrem Herrn leben. Hören wir dieses Wort nicht, so ist Weihnachten an uns vorübergegangen." - Dietrich Bonhoeffer, Predigten - Auslegungen - Meditationen Bd. 2: 1935-1945, KT 159, München 1998.

Immer wieder erlebe ich es - besonders erschreckte mich dies während eines längeren Aufenthalts in den USA -, daß Menschen ihr Christsein darauf reduzieren, daß Christus für sie gestorben ist und sie (im paulinischen Sinne; vgl. Röm 8,24f.) darauf hoffen, daß sie nicht in die Hölle kommen, sondern ins Paradies. Mal abgesehen davon, daß viele Menschen teilweise völlig unbiblische Vorstellungen von dem haben, was sie als "Paradies" bezeichnen, vergessen sie darüber, daß Jesus weder in seinem Leben noch in seinen Worten diese Weltauffassung vertreten hat. Denn in Jesus flüchtete Gott nicht vor dieser Welt, sondern wurde ihr bzw. den Menschen gleich, nahm also das menschliche Leben an. Mit ebendiesem Leben beschäftigten sich seine Predigten. Es ging ihm somit nicht um Weltflucht, sondern vielmehr um Welttransformation. Das war ein entscheidender Faktor Jesu Botschaft.

Daß diese Botschaft von Welt- bzw. Lebenstransformation ganz eng mit dem jenseitigen ewigen Leben verknüpft ist, wird v.a. bei Johannes deutlich: In Joh 5,24.28f. lesen wir folgendes:

"Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht ins Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen. […] Wundert euch nicht, denn es kommt die Stunde, in der alle, die in den Gräbern sind, seine Stimme hören werden, und werden hervorgehen, die da Gutes getan haben, zur Auferstehung des Lebens, die aber Übles getan haben, zur Auferstehung des Gerichts."

Während in V.24 davon die Rede ist, daß diejenigen, die Jesus glauben, schon "zum Leben hindurchgedrungen" sind, ist ab V.28 der Blick auf die zukünftige Auferstehung der Toten gerichtet. Vielleicht ist es etwas überinterpretiert, wenn man Christi Menschwerdung - was wir traditionell an Weihnachten feiern - mit dem ersten Lebensbegriff verknüpft, und seinen Kreuzestod und die Auferstehung (traditionell an Ostern gefeiert) mit dem ewigen Leben verbindet. Aber immerhin läßt sich den synoptischen Evangelien (Matthäus, Markus, Lukas) eine ähnliche Gewichtung entnehmen, wenn zu Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu der Fokus auf Heilungen, Exorzismen und Reich-Gottes-Predigten (bei Johannes ist das Synonym interessanterweise "ewiges Leben") liegt, während nach dem Petrusbekenntnis (Mt 16,13ff.; Mk 8,27ff.; Lk 9,18ff.) ein Richtungswechsel dahingehend stattfindet, daß von nun an Jerusalem als Zielort im Blick ist (v.a. bei Lk) und Jesus von seinem Leiden, Tod und deren Zweck redet.

Offensichtlich besteht eine enge Verknüpfung zwischen dem irdischen Leben des Christen und dem Jenseitigen. Dies scheint mir von zweierlei Bedeutung zu sein:

1. Sowohl Matthäus (Kap. 25,31ff.), Paulus selbst (Röm 2,6ff.; Kor 3,12ff.) als auch die Offenbarung (Kap. 20,12b) weisen auf die jenseitige Bedeutung des irdischen Lebens und Handelns hin. Ist das lutherische sola gratia, die Rechtfertigung aus Glauben, als Totschlagargument vielleicht doch etwas zu kurz gegriffen, wenn man sich allein darauf berufen will?

2. Besonders im Alten Testament, aber auch z.B. in der Offenbarung Kap.21, liegen die Vorstellungen vom ewigen Leben nicht irgendwo transzendent jenseits von Materie, Leiblichkeit u.ä. Z.B. das neue Jerusalem, wie die Offb 21 es darstellt, realisiert sich nicht in Gottes Dimension, wie man naheliegenderweise denken könnte. Stattdessen heißt es:

"Und ich sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott (apo tu theu) aus dem Himmel (ek tu uranu) herabkommen, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann." (Offb 21,2)
Selbstverständlich ist es nicht sinnvoll, seinen Blick von nun an vollig auf irdische Dinge zu richten oder gar zu einer Art Werkgerechtigkeit zu tendieren, weil ich denke, ich müßte das Reich Gottes hier auf Erden in aller Gänze realisieren. Aber ich glaube, daß wir allzu oft die Verbindung vom Jetzigen zum Zukünftigen aus den Augen verlieren oder uns dieser theologischen Gegebenheit überhaupt nicht bewußt sind. Überdies vergessen wir, daß wir (auch als Christen) nach wie vor auf der Erde leben und nach unserer Bekehrung nicht direkt entrückt worden sind, obwohl sich dies mancher vielleicht wünscht.

Man könnte dies natürlich noch viel ausführlicher erläutern. Ich begnüge mich stattdessen mit einem zweiten
Zitat Bonhoeffers, der sich zur Zeit seiner Tegeler Haft intensiv mit dem Alten Testament beschäftigte und geradezu davor warnte, zu schnell neutestamentlich zu denken (vgl. Widerstand und Ergebung, 18. Auflage 2005, S.87f.):

"Ich glaube, wir sollen Gott in unserem Leben und in dem, was er uns an Gutem gibt, so lieben und solches Vertrauen zu ihm fassen, daß wir, wenn die Zeit kommt und da ist - aber wirklich erst dann! - auch mit Liebe, Vertrauen und Freude zu ihm gehen." - A.a.O., S.96f.

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