“Stell dir vor, es ist Gottesdienst, und alle wollen hin“ - Rezension zu Johannes Reimers “Gott in der Welt feiern“, Teil 2 (Konkretionen)

Nachdem ich im ersten Teil der Rezension Reimers theologisch-historische Grundlagen beschrieben habe, die er in Kapitel 2 dargelegt hat, folgen im dritten bis siebenten Kapitel echte Praxisfragen. Gleichzeitig darf natürlich nicht verheimlicht werden, dass trotz Reimers Anspruch einer Handlungstheorie hier nicht davon ausgegangen werden darf, dass er nun haarklein berichten würde - oder gar könnte -, wann man genau was zu tun habe. Das wiederum widerspräche aber auch seiner theoretischen Grundlage der Kontextualisierung. D.h. wir werden in den Kapiteln 3-7 mit hineingenommen in eine Art Metatheorie über den Gottesdienst, ganz einfach deshalb, weil der zentrale Baustein von Reimers missionalem Gottesdienst die Kontextualisierung ist, auch wenn er immer wieder mal praktische Beispiel einstreut und tatsächlich von Kapitel zu Kapitel konkreter wird. Je nach dem, wo ich mich geographisch und soziologisch befinde, sieht der missionale Gottesdienst einfach anders aus. Reimer präsentiert damit also gerade nicht die Eier legende Wollmilchsau als “one size fits all“, wie die Hoffnung oder Angst mancher gegenüber missionaler Theologie scheint. Er ist sich nämlich (so entfaltet er in Kapitel 4) der Multi- optionalität der postmodernen Gesellschaft bewusst, sodass - klassisch-liturgiewissenschaftlich gesprochen - je nach Milieu der Gottesdienst so oder so aussehen kann bzw. sollte; in meinem Blogpost über Kirche als Durchlauferhitzer habe ich ja auf das Beispiel Musik hingewiesen.

Bevor jedoch Reimer dann wirklich konkret wird, entfaltet er im dritten Kapitel auf einer Metaebene die Schwerpunkte seines missionalen Gottesdienstes, die im direkten Zusammenhang zum fünffältigen Dienst nach Epheser 4 stehen dürften, wie er sie an gleicher Stelle behandelt. Denn ganz im Sinne des Mainstreams missionaler Theologie argumentiert er zugunsten einer Gemeindeleiterschaft, die gleichberechtigt aus Aposteln, Propheten, Evangelisten, Hirten und Lehrern besteht (72ff.); diese Facetten finden sich gleichermaßen im Gottesdienst wieder. So versteht Reimer den Apostel als “kerygmatische[n] Leiter seiner Gemeinde, der die Hauptver- sammlung für die missionarische Ausrichtung der Gemeinde und ihres Gottesdienstes trägt.“ (76) Dem Propheten spricht er die Offenbarung des konkreten Gotteswillens zu, was sich in Ermahnung, Erbauung und Trost äußere (79); “[m]an wird daher darauf achten müssen, dass der Gottesdienst der Gemeinde den Freiraum bietet, in dem Menschen mit der prophetischen Gabe auftreten und ihre Worte geprüft werden können.“ (80f.) Den Evangelisten bringt Reimer mit der klaren Kommunikation des Evangeliums und der Proklamation des Reiches Gottes in Verbindung (81f.), während er vom Hirten sowohl die Erziehung zur Mission als auch seelsorgerliche Verkün- digung im Gottesdienst ableitet (83ff.). Dem Lehrer, last but not least, spricht Reimer die Verantwortung zu, für ein biblisches Fundament des missionalen Gottesdienstes zu sorgen (85ff.). Daraus ergeben sich die Dimensionen der Anbetung Gottes, der eigenen Erbauung, der Gemeinschaft und der missionarischen Sicht (72). Die Reihenfolge ist für Reimer bindend, denn - so betont er immer wieder - der Gottesdienst ist an erster Stelle für Gott da.

Das vierte Kapitel greift ausführlicher die Pluriformität missionaler Gottesdienste auf, während auf der Metaebene die Elemente identisch sind. Darum spricht Reimer von der Gottesdienstform als Schale, mit Paul Althaus von “gemachter Kirche“ (102). Denn Reimer sind durch Gerhard Schulz fünf spezifische Sozialmilieus bekannt, die er jedoch nicht detaillierter erläutert. Vielmehr charakterisiert er zahlreiche Gottesdienstformen aus der Kirchengeschichte (liturgisch, traditionell, erwecklich, Lobpreis, für Suchende, Hausgemeinde, Emerging, medial) und wägt Vor- und Nachteile ab (107-117). Anstatt aber nun eine dieser Formen zu präferieren, bleibt Reimer dann doch auf der Metaebene und betont erneut die vier wichtige Prozesse (oder Dimensionen) im Gottesdienst: “Das bedeutet, wir informieren über Gott, wir kommunizieren mit Gott und miteinander und wir bezeugen Gottes Gegenwart.“ (121) In Kombination mit der bereits erwähnten Leitung durch den Heiligen Geist sind ihm diese Prozesse so wichtig, dass er beispielsweise konsequent das Priestertum aller Gläubigen einbaut - durch einen Zeugnisteil, durch ein breites Spektrum geistlicher Gaben oder auch die Auflösung der großen Versammlung nach dem Worship hin zu übersichtlichen Gruppen, die selbst aktiv werden können und bereits während des Gottesdienstes Gemeinschaft (“koinonia“) untereinander haben sollen (125ff.). Gleichzeitig pocht er auf die Leitung durch die Predigt (130).

Dass aber eben nicht nur die Predigt leitet, wie dies traditionellerweise gern etwas einseitig fokussiert wird, thematisiert Reimer im fünftigen Kapitel. Mit seinem Anspruch hoch effektiver Leitung (135) wird damit sofort deutlich, dass Reimer nicht zu den missionalen Vertretern gehört, die Leitung geradezu wegratio- nalisieren. Natürlich und v.a. auf der Leitungsebene ist es der bereits erläuterte fünffältige Dienst des Leitungsteams, der ganz entscheidend auch auf die Gottesdienstleitung einwirkt, auch wenn beide Teams nicht identisch sind. Was vielmehr gegeben sein müsse, so Reimer, ist, dass der Gottesdienstleiter (Reimer spricht hier im Singular) eben Gottes Anliegen wahrnehmen und einen Dialog zwischen Gott und Menschen fördern solle, indem er auf Gott hört, was für Reimer die Gabe der Erkenntnis und Weisheit impliziert (138ff.), genau genommen aber eben das breite Spektrum von apostolischer, prophetischer, evangelistischer, pastoraler und theologischer Facette impliziert. Nicht, dass der Gottesdienstleiter alles selbst können müsste, sondern es soll ihm und dem Team wichtig sein, dass diese fünf “Richtungen“ abgedeckt wird, zumindest im Gros mehrerer Gottesdienste; dies wie auch die Auswahl von Predigern hätten sich, so Reimer, nach den Themen zu richten. Insgesamt versteht er den Gottesdienst als einen Heilsraum und damit nicht als Programm (141), weshalb er die Authentizität von Gottesdienstleitern betont wie auch, dass sie selbst sich leiten lassen können müssten (144); regelmäßiges Trainining und Schulung aller Beteiligten sollen das Programm abrunden.

Im sechsten Kapitel stellt sich Reimer die Frage, wie ein missionaler Gottesdienst zu entwickeln sei. Ausgehend vom Gebet und der Suche nach Gottes Anliegen für den konkreten Gottesdienst, seien erste Bilder zu entwickeln, die im zweiten Schritt als Fokussierung zu einem Ideenfluss über wesentliche Strukturen führen sollen und in anschließender Stille jedes Einzelnen der Gottesdienstplanung zu überprüfen sei. Dabei bleibt für Reimer die Gottesdienstplanung immer ein kreativer Prozess (149ff.), bei dem kein Gottesdienst dem Anderen gleicht, auch wenn er auf die Elemente Lobpreis, Gebet, Proklamation und Zeugnis beharrt (151ff.). In scheinbarem Gegensatz dazu verweist Reimer auf die traditionellerseits bestehenden Gottesdienstzyklen, die er an der Schnittstelle von Kontext und “Spontaneität“ ansiedelt. Was die Länge betrifft, gibt er den Richtwert, nicht länger als 1,5h für den Gottesdienst zu planen, auch wenn er dennoch dem Heiligen Geist die Freiheit zu agieren überlassen möchte (157f.). Überhaupt macht er den Zeitpunkt des Gottesdienstes vom Kontext abhängig (157).

Innerhalb des siebenten Kapitels geht Reimer noch konkreter der Frage nach, wie genau liturgische Texte zu schreiben seien (162ff.). Neben der Erwähnung hilfreicher Details dazu ist v.a. auf seine Betonung hinzuweisen, dass der missionale Gottesdienst viel Gebet beinhalte (167). Zwar mögen Reimers konkrete Beispiele etwas überfrachtet wirken, aber insgesamt ist diese Linie die logische Konsequenz aus dem vorher Gesagten. Unter verschiedenen praktischen Tipps sei v.a. darauf hingewiesen, wie vehement Reimer immer wieder - auch in anderen Kapiteln - auf die Raumgestaltung Wert legt (173). Leider wird dieser Punkt meiner Erfahrung nach bei so vielen Gottesdiensten vernachlässigt, sodass damit der Gruppe der sinnlich orientierten Menschen regelmäßig Steine in den Weg gelegt wird, Gott zu begegnen.

Insgesamt ist Reimers Werk zur Liturgik damit ein absolut zu empfehlendes Buch, das ein breites Spektrum an Christenheit ansprechen dürfte, denn sowohl die liturgisch orientierten Christen wie auch die freidenkenden Charismatiker können der Theorie nach auf ihre Kosten kommen. Positiv zu nennen sind weiterhin die anschaulichen Grafiken und Fragebögen. Was mich dagegen etwas verwundert - und das ist dann auch letztlich meine Kritik -, ist manch grammatikalischer Schnitzer, der sich nicht nur auf eine Überschrift bezieht (“7.5 Hilfe, ich brache [sic!] ein Zeugnis!“, 168), sondern auch auf den lateinischen Fachterminus “missio Spiritus“. Auf S.42 wird er im Zuge einer Grafik als Genitiv Singular der U-Deklination entsprechend richtig gesetzt, während es auf S.55 und sogar als Überschrift und damit im Inhaltsverzeichnis “missio Spiritu“ heißt. Der Dativ oder Ablativ Singular macht hier aber gar keinen Sinn, zumal es an vorheriger Stelle ja richtig dekliniert ist. Das mag eine Kleinigkeit sein, aber im akademischen Kontext - v.a. auf universitärer Ebene - ist korrektes Latein, gerade bei solchen Fachausdrücken, einfach Standard, sozusagen der Kontext, von dem Reimer die ganze Zeit über spricht. Dazu gehört auch die Tatsache, dass er zwar häufig zur Bibel greift, dies aber nur sehr unkritisch tut; beispielsweise wird implizit die “Echtheit“ aller dreizehn Paulusbriefe vorausgesetzt wie auch die Jungfrauengeburt u.ä. Natürlich kann und darf man das alles glauben, aber geringfügig andere Formulierungen hätten meiner Ansicht nach dem Werk geholfen, auch vonseiten deutscher universitärer Theologie noch stärker rezipiert zu werden. Ansonsten bietet Reimer nämlich wirklich guten Input, der sowohl theoretisch als auch praktisch Hand und Fuß hat und genügend Freiheit zur eigenen Entfaltung lässt, wenn man sich Gedanken über eine geegnete Gottesdienstgestaltung machen will. Also, insgesamt Daumen hoch!

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