Welche sozialen Auswirkungen sollte Kirche haben? John H. Yoders “Die Politik des Leibes Christi (Rezension)

Auch die deutsche Übersetzung von Yoders Werk “Body Politics - Five Practices of the Christian Community Before the Watching World“ liegt in einer ansprechenden Paperback-Ausgabe im Neufeld-Verlag vor. Eingeleitet wird sie durch ein Vorwort von Lukas Amstutz vom Theologischen Seminar Bienenberg, der kurz und knackig nicht nur Yoders Gedanken bündelt, sondern auch auf die Aktualität seines Denkens für eine missionale Kirche hinweist. Denn inhaltlich knüpft Yoder natürlich an sein Hauptwerk, “Die Politik Jesu“, an, jedoch wesentlich praktischer. So thematisiert er unter dem Titel “Die Politik des Leibes Christi. Als Gemeinde zeichenhaft leben“ sehr konkret sein Verständnis der sozio-politischen Dimension von Kirche, und zwar anhand von fünf Zeichenhandlungen, die er selbst - wie wir später sehen werden - auch als “Sakramente“ bezeichnen kann. Damit spricht Yoder wiederum gerade nicht von klassischer Parteipolitik, will aber auf der anderen Seite gerade Kirche und Politik nicht voneinander trennen, sondern entgegen früherer Traditionen Kirche dezidiert als “polis“ verstehen, die in einem dezidierten Verhältnis zur Welt steht (vgl. S.17ff.). So lautet seine Hauptthese,

“dass der Wille Gottes für den Menschen als soziales Wesen vorgebildet ist in der Gestalt, zu der der Leib Christi berufen ist. Kirche und Welt sind nicht zwei Abteilungen unter getrennter Gesetzgebung oder zwei Institutionen mit einander widersprechenden Handlungsweisen, sondern zwei Ebenen der Relevanz desselben Herrn. Das Volk Gottes ist heute schon berufen, das zu sein, wozu letztlich auch die Welt berufen ist.“ (S.22)

Wegen dieser Aufeinander-Bezogenheit von Kirche und Welt fühlt sich Yoder genötigt, das Leben der Kirche in normaler (nicht-theologischer) Sprache zu beschreiben (vgl. S.23), womit er dem Ansatz nach in den Spuren Dietrich Bonhoeffers agiert, der in seinen Gefängnisbriefen (herausgegeben als “Widerstand und Ergebung“) dezidiert von einem religionslosen Christentum und einer religions- losen Interpretation biblischer Begriffe gesprochen hat. Und tatsächlich überträgt Yoder die ekklesiologischen Implikationen, die er anhand von fünf Musterbeispielen macht, auch immer wieder auf säkulare Zusammenhänge, wie wir sehen werden. Diese Muster- beispiele kann er im Weiteren dann eben auch kirchlich “Sakramente“ nennen, deren soziologische Facetten er zunächst einmal hervorhebt und gleichzeitig darin vom sozusagen geheimnisvollen Wirken Gottes spricht (= “Sakrament“), womit er das traditionell-metaphysische Verständnis von Sakramenten infrage stellt und darin dem (post-)modernen Leser sicher entgegenkommt.

Als erste Zeichenhandlung thematisiert Yoder das Binden und Lösen, worunter er die von Jesus benutzte, rabbinische Terminologie aufgreift und auf zwei darin enthaltene Aspekte eingeht: Einerseits geht es laut Yoder darin um eine ethische Urteilsfindung (“‘Lösen‘ heißt, von Verbindlichkeit freisprechen“; S.29), andererseits betont Yoder aber ebenso sehr den Aspekt der Versöhnung, also die Wiedereingliederung einer Person in die Gemeinschaft, die zuvor gegen ethische Normen verstoßen hat. Bei Jesus entdeckt Yoder sogar eine detaillierte Anweisung, wie solch ein Prozess der Versöhnung und Wiedereingliederung vor sich zu gehen habe (mindestens dreimaliger Versuch der Versöhnung vonseiten der Gemeinschaft, persönliche Initiative von Wissenden, Wiederherstellung als Ziel, keine Unterscheidung zwischen großen und kleinen Vergehen, Ziel ist das Wohlergehen des Sünders). Dessen Ergebnis stelle nicht nur das Handeln der Gemeinschaft dar, so Yoder, sondern gleichsam das Gottes, womit die enge Verzahnung zwischen den Gläubigen und Gott deutlich wird (vgl. S.30; 34). Man spürt, wie viel Macht bzw. Potenzial Yoder der christlichen Gemeinschaft zuspricht: Es seien nicht allein die Leiter, sondern im Prinzip jeder, der an dieser Entscheidungsfindung beteiligt ist. Denn es ist für ihn das Vertrauen in den Heiligen Geist - und nicht in die Leitungsbegabung einzelner -, das ausschlaggebend ist.

Auch in Auseinandersetzung mit den anderen Zeichenhandlungen wird dieses demokratische - oder besser pneumatokratische - Prinzip deutlich werden (vgl. S.39). Yoder entdeckt diese sog. “Regel Christi“ unter den protestantischen Erneuerungsbewegungen “natürlich“ zu allererst innerhalb seiner Täufertradition, dann aber auch im Pietismus und konkret im Methodismus (vgl. S.37). Praktische Anwendung spricht er diesem Urteilsprinzip sowohl in der klassischen Seelsorge als auch in der Konfliktbearbeitung zu, was eine Alternative zu Zivil- oder Strafprozessen sein könne und wie er sie schon im sog. “Victim-Offender-Reconciliation-Program“ in Kanada vorfindet, wodurch u.a. Täter die Perspektive der Ofer einzunehmen lernen könnten und tatsächliche Versöhnung aufseiten der Opfer stattfinde, nicht allein Bestrafung der Täter (vgl. S.42ff.).

Unter der Überschrift “Das Brot miteinander brechen“ geht Yoder auf das ein, was er als soziologische Grundlage für die spätere Entwicklung hin zum Abendmahl und zur katholischen Messe ansieht. Denn für ihn stellt das Abendmahl, v.a. mit seinem späteren mittelalterlich-metaphysischen Gepäck zwischen Transsubstantiation und sonstigem Ritualismus nicht die biblische Grundlage dar; vielmehr ist für ihn das gemeinsame Mahl Jesu mit seinen Jüngern ein “normales Essen miteinander, um satt zu werden, dass Jesus an jenem Abend segnete und zu seinem Gedenken beanspruchte.“ (S.49) Yoder ist sich natürlich des israelitischen Backgrounds und der messianischen Implikationen bewusst, die mit Jesu Speisung der Hungrigen einhergehen; er verweist explizit auf die Bedeutungs- dimension der Danksagung (= Eucharistie) wie an Passah als Zeichen der Erlösung. Nichtsdestotrotz pocht er aber immer wieder darauf, dass das gemeinsame Essen als soziales Ereignis den “Mittelpunkt der Jüngergemeinschaft“ (S.52) darstelle, sodass das gemeinsame Mahl der Jünger Yoder zufolge ein sozio-ökonomisches Verhalten des Teilens auch jenseits familiärer Grenzen ist, das gleichsam den Anbruch messianischer Zeit verkündet (vgl. S.56f.). Dieser soziale Ausgleich ist es auch, den Yoder beispielsweise einer kapitalistischen Marktwirtschaft entgegenhält (vgl. S.63f.)

Die Taufe stellt für Yoder die dritte Zeichenhandlung dar, die immens soziale Implikationen enthält. Denn sie ist ihm zufolge ein Initiationsakt in ein neues Volk, und zwar aus Juden und Nicht-Juden (vgl. S.66f.). Für unsere Zeit geradezu banal, hebt Yoder aber den revolutionären Charakter hervor, den er im ersten Jahrhundert gehabt haben muss. Was aber für unsere Zeit konkreter zu greifen sein dürfte, ist Yoders Zurückweisung jeglicher Diskriminierung (vgl. S.70) - und damit auch jeglicher Schichten- oder Klassenbildung, sei sie religiös oder sozial motiviert. Die Tragweite dieser Zurückweisung dürfte für jeden sofort einsehbar sein; man denke nur an die oftmals negative Einstellung gegenüber  bildungsfernen Schichten bis hin zur Ausbeutung armer Nationen innerhalb der Kaffee- oder Textilbranche. Dass die Taufe in Verbindung mit dem Evangelium aber nicht nur ein sozial(er)es Verhalten fordert, sondern tatsächlich ein neues Leben in Anknüpfung an das Heilshandeln Christi beinhaltet, macht Yoder ebenfalls deutlich (vgl. S.84).

Das zuvor bereits angeschnittene demo- bzw. pneumatokratische Denken Yoders wird ebenfalls unter dem Titel “Die Fülle Christi“ deutlich, wenn Yoder auf die unterschiedlichen Begabungen/Gaben (“Charismen“) innerhalb der Kirche zu sprechen kommt. Weil alle Gaben als Teil des Sieges Christi zu verstehen seien und sich im einen Leib der Kirche ergänzten, stünden sie “in organischer wechselseitiger Abhängigkeit“ (S.97) zueinander mit dem Ziel des Wohlergehens der Gemeinschaft, so Yoder. Er betont deshalb immer wieder den antihierarchischen Charakter der paulinischen Leibesmetaphorik und fordert statt dessen einen sog. “partizipatorischen Stil gemeinschaftlichen Lebens“ (S.103) - sprich: jeder soll sich beteiligen und hat dasselbe Gestaltungspotential. Mit diesem sehr organischen Organisationsprinzip hebt Yoder nicht nur hervor, dass “[s]eit Pfingsten […] der Spezialist für den Zugang zum Göttlichen [= der Priester; d.Verf.] arbeitslos“ (S.106) sei, sondern er stellt damit auch das “geistliche Amt“ von Pastoren und Pfarrern infrage:

“Es gibt so viele geistliche ‘Ämter‘ oder Dienste, wie es Glieder am Leib Christi gibt.“ (S.111) Dass Yoder damit gemeindlich-hierarchische Machtstrukturen grundsätzlich für nicht-biblisch erklärt (und dies auch überzeugend darlegt), dürfte offensichtlich sein. Inwiefern die Anwendung unternehmerischer Prinzipien auf Kirchengemeinden sinnvoll und biblisch ist, müsste an anderer Stelle eigens geprüft werden. Bislang dürfte sich das von Yoder angeregte Gemeindemodell wohl am ehesten in sog. “Organic Churches“, also organischen Gemeinden, wiederfinden lassen.

Interessanterweise thematisiert Yoder aber im nächsten Kapitel (“Regel des Paulus“) anhand von 1 Kor 14 sogar explizit die Rolle von Pastoren als Moderatoren während des Gottesdienstes - bzw. gerade nicht, weil Yoder diese Moderatorenfunktion nämlich gerade nicht vorfindet (vgl. S.113); vielmehr soll jeder prophetisch reden bzw. das Gesagte überprüfen, so Yoder. Aber nicht nur innerhalb der ersten Versammlungen beobachtet er diese Form der gottesdienstlichen Versammlung, sondern auch im Prozess von Entscheidungsfindungen verweist Yoder besonders auf die reformatorische Bewegung und ihre Ambitionen zu offenen Gespräch, auch wenn sich dies sehr bald wieder ändert und die Pastoren doch wieder die übliche Machtfigur werden (vgl. S.121f.). Lediglich bei den Quäkern entdeckt er dieses Prinzip nach wie vor und beleuchtet auch dessen wirtschaftliche Gleichwertigkeit anhand quäkerischer Universitäten (vgl. S.122f.).

Diese fünf Zeichenhandlungen (oder Sakramente) verdeutlichen laut Yoder das politische Handeln der Kirche. Ihm zufolge zeigen sie die Wesensähnlichkeit von Kirche und Welt bei gleichzeitiger Unterschiedenheit von beidem (vgl. S.131ff.), denn abgeleitet aus dem Erlösungswerk Christi und im Wissen um die Sünde der gefallenen Schöpfung, hebt Yoder nochmal eigens hervor, dass die Kirche “Teil der Welt [ist], der die Erneuerung schon bekennt, zu der die Welt als Ganzes berufen ist. […] Bekehrung und trennung von der Welt sind kein Weg ins ‘Jenseits‘; sie sind der einzige Weg einer relevanten und erlösenden Gegenwart inmitten der Wirklichkeit.“ (S.137f.) Yoder driftet damit keineswegs ab in einen Liberalismus, der lediglich noch die sozial-positive Funktion der Kirche kennt, nimmt aber immer wieder den ganzheitlichen Aspekt von “Erlösung“ in den Blick, der oftmals von der Kirche vergessen worden ist. Auf jeden Fall lesenswert!

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